Tonglen- eine Praxis des Mitgefühls

Ungewöhnliche, bedrohlich wirkende Zeiten, wie diese, die wir tatsächlich als gesamte Menschheit global und simultan erleben, fördern das Schlechteste und auch das Beste an Verhaltensweisen der Spezies Mensch hervor. Sie beleuchten unsere, oftmals schon überwunden geglaubten, archaischen, oft reflexhaften Reaktionen, die durch tatsächliche Gefahren oder durch irrationale, verdrängte Ängste wieder zu Tage treten. Wie im Beitrag zuvor schon erwähnt, treiben sie den Menschen möglicherweise zu egoistischem Verhalten.

Das trifft nicht nur auf einzelne Personen zu. Ganze Nationen können in ihrer Verblendung nicht erkennen, dass nur gemeinsames Handeln, zum Wohle aller, wirklich hilfreich ist. Die Kette der Beispiele ist leider sehr lang und reicht von gehorteten Waren bis zur Abschottung gegen Menschen, die aus Not ihre Heimat verlassen mussten. Natürlich ist es verständlich und auch sinnvoll in der Not an sich selbst, seine eigenen Lieben, seinen Stamm/Gruppe und seine Nation zu denken und zu schützen! Doch dabei darf man es nicht belassen. In ihrer Ausschließlichkeit muss diese Entwicklungsstufe, deren Merkmal eine Art Stammesdenken ist, überwunden werden um wirklich die großen Krisen der Menschheitsgeschichte in dieser Zeit (Ich denke da nicht nur an die Corona-Krise, sondern in erster Linie an die noch viel entscheidendere Krise der künstlichen Erderwärmung und der Ausbeutung unserer Umwelt, die im Sinne des Interbeing ja auch ein Raubbau an uns selbst darstellt. Wer in die Tiefe blicken kann, wird dies als wahr erkennen.) anzublicken, zu überschauen und als gemeinsames Thema jedes einzelnen Menschen und aller Nationen auf diesem Planeten, erkennen und wahrnehmen zu können.

Dass das vielfach schon als Entwicklungsschritt in Individuen oder manchen politischen Handlungsweisen angekommen ist, zeigt sich glücklicherweise in ebenso vielen positiven Beispielen von Solidarität, notleidenden Menschen und anderen fühlenden und ausgebeuteten Wesen gegenüber, die oftmals über die eigenen persönlichen und regionalen Grenzen auch hinaus weisen können. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Selbstverständlich ist es löblich und gut, für die nächsten Nachbarn vielleicht einzukaufen oder für die eigene Region zum Beispiel Atemschutzmasken zu nähen. Unbedingt beginnt das Engagement vor der eigenen Haustür! Doch wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es, wie in allen anderen Fragen auch, entscheidend ist, aus welcher Motivation heraus gehandelt wird. Es kommt also wieder auf die innere Haltung an.

Denn wende ich mich der ganzen Welt voller Mitgefühl zu, ungeachtet sogar, ob es sich um mir angenehme Menschen, vielleicht meine Nächsten handelt, oder jemanden, der womöglich in meinen Augen fehlerhaft und gemein ist, zu meinen Feinden zählt und ohne einen für mich persönlichen Nutzen zu erwarten, werde ich zu ganz anderen Handlungsweisen gelangen, als wenn ich beschränkt nur auf mich und die Meinigen liebevoll blicken kann. Im Christentum ist dann auch nicht nur von der Nächsten-, sondern auch sogar von der Feindesliebe die Rede. Doch wie kann das genau gemeint sein und vor allem, wie ist so eine Anforderung mit diesem hohen Anspruch überhaupt zu realisieren?

Nun ist die Liebe als Begriff in unseren Breiten ein recht verklärter Ausdruck und wird oftmals als ein schwer zu erreichender, Zustand angesehen, der uns ereilt oder auch nicht; für dessen Erreichen man sich jedenfalls kaum selbst aktiv bemühen kann. Liebe gilt hierzulande als ein hohes Ideal und wird häufig verquickt mit einer Art von Schicksalshaftigkeit. Darum bleibt der dahinterstehende Sinn oftmals etwas abstrakt und wenig greifbar, wenn es darum geht das Wort Liebe im Alltag zu konkretisieren. Kurz gesagt, lässt der Begriff der Liebe ein sehr großes Maß an Interpretationsmöglichkeiten zu. So viele Menschen- so viele Ansichten darüber, was Liebe bedeutet.

Darum möchte ich hier den Begriff der Liebe durch den des Mitgefühls ersetzen und bitte darum, diesen nicht mit dem ebenso problematischen Begriff des Mitleids zu verwechseln.

Mitgefühl entsteht in uns durch die eigene Erfahrung von Leid. Leid erfahren wir in vielfacher Form. Kein Leben kann ohne diese Erfahrung beginnen, durchlebt werden und enden. Körperliche Schmerzen oder Krankheiten, innere Pein oder das Leiden unter lieblosem Verhalten anderer sind Bestandteil des Lebens jeden fühlenden Wesens und darum ist und sollte unser Mitgefühl nicht auf den Menschen beschränkt bleiben. Jede leidende Kreatur hat Achtsamkeit und Mitgefühl durch uns verdient und nötig. Meistens werden leidvolle Erfahrungen als ausschließlich negativ angesehen und auf jeden Fall zu meiden versucht. Gerade in unseren westlichen Breiten sieht man sie eher als Störung des „normalen“ Ablaufs oder fühlt sich als Leidender schnell stigmatisiert. In einer Weltanschauung, die ausschließlich gutes Aussehen, strotzende Gesundheit und materielle Güter als erstrebenswert sieht und „erlaubt“, sind Behinderungen, Trauer und Tod nicht gerne gesehen oder werden sogar tabuisiert. Das Leid aber, in welcher Form auch immer es sich zeigt, ist eigendlich viel mehr als etwas nur zu Meidendes. Man kann das Leid auch als Rankgitter für eine individuelle Weiterentwicklung des eigenen Selbstes oder die kollektive evolutionäre Leiter der gesamten Menschheit sehen. Diese Denkweise entspricht eher der östlichen Weltanschauung. Auf jeden Fall bringt uns nur das eigene leidvolle Erleben dazu, uns in andere hineinzuversetzen. Wir wünschen das Leid zu beenden. Wir sehen, dass alles Leben nach Glück strebt, so wie wir. Aus dem Grund halten alle großen Religionen und Weisheitstraditionen dazu an, sein eigenes Glück und das der anderen zu mehren.

Während sich in der Bibel weise und tiefe Einsichten und sozusagen Handlungsempfehlungen finden lassen, wie die der Nächsten- und Feindesliebe, ist man dort doch, wie ich empfinde, in der Anleitung und der Möglichkeit der Umsetzung, etwas sparsam geblieben.

Diesbezüglich findet sich jedoch im, gerade auch tibetischen Buddhismus, eine Menge an hilfreichen Anweisungen, um auf dem Übungswege zu mehr Mitgefühl und geistiger Reife zu gelangen, wenn man sich denn darauf einlässt.

Weder Christen noch Angehörige anderer Religionen oder Menschen, die von sich sagen, dass sie keinem Glauben zugetan sind, sollten Berührungsängste haben und die einfachen, wie wirkungsvollen Anleitungen, praktizieren.

Ich möchte hier nun die Praxis des „Tonglen“ vorstellen. (Siehe auch unter „Buchtipps und mehr“: Chrödron, Pema). Wörtlich bedeutet es „aussenden“ und „aufnehmen“ und ist eine traditionsreiche Form der Meditation im tibetischen Buddhismus, deren Wurzeln jedoch in Indien zu finden sind. Mit der Praxis des Tonglen soll der Übende sich mit allen fühlenden Wesen identifizieren und verbindet sich mit dem Leid und den störenden Gefühlen anderer. Er macht sie sich bewusst, versucht sie nachzuempfinden und durch eine geistige Vorstellungskraft zu transformieren. Praktisch sieht das so aus, dass man sich zunächst in der Meditation auf seine Herzregion fokussiert um dann, nach einigen Minuten, zum Beispiel das Leid einer Person sich bewusst zu machen und nachzuempfinden. Nun wird man dieses mit dem eigenen Atem in sich aufzunehmen, es einatmen, möglicherweise in der Vorstellung von dunklem Rauch oder ähnlichem und in seinem Herzen verwandeln, transformieren zu vielleicht hellem oder goldenem Licht, welches zu der betreffenden Person hin ausgeatmet wird. Wer Schwierigkeiten mit dem Visualisieren hat kann stattdessen auch Sätze in Gedanken formen, wie beispielsweise: “Ich atme deine Trauer/Sorge/Unglück ein.“ Und beim Ausatmen: „Mögest du glücklich sein.“ Oder: „Mögest du heil werden.“  Diese Übung wird mehrere Minuten wiederholt und kann dazu führen, sich mit der Person eins zu fühlen. Dem Praktizierenden wird fast augenblicklich ein ruhiger, gelassener Geist beschert und die Vermehrung von Glück erfahrbar und spürbar. Er sieht sich, seinen Geist und den des Gegenstands seiner Meditationsübung, gereinigt und befreiter als zuvor. So mehrt Tonglen das Glück in der Welt.  Der Übung des Tonglens liegt die Annahme zu Grunde, dass alle Wesen miteinander verbunden sind und führt also auf zweifache Weise zu mehr Glück. Bei regelmäßiger Anwendung kann man eine Steigerung von Mitgefühl und dessen Intensität, anderen Wesen und sich selbst gegenüber, erfahren. Selbstverständlich wird das zwangsläufig die Welt zum Guten verändern. Denn ein Herz voller Mitgefühl wird nicht ruhen bis alle leidenden Wesen Zuwendung und Hilfe erfahren. Wir alle sind aufgerufen dergestalt an uns zu arbeiten, denn so wird es möglich, uns der gesamten Schöpfung in liebevollem Aufmerken und Mitgefühl zuzuwenden und für sie einzutreten. So wird auch der so Praktizierende durch mitfühlendes, achtsames Handeln die Welt verändern.

Außer diesem quasi psychologischen Effekt, die diese Form der Mitgefühlspraxis zweifelsohne hat und der ja relativ einfach nachzuvollziehen ist, wie ich finde, gehe ich auch davon aus, dass die Praxis eine direkte Auswirkung auf das Objekt hat, dessen Leid man sich mit der Methode tatsächlich zu eigen macht, innerlich durch etwas, das man vielleicht als göttliche Wesenskern, der in jedem von uns zu finden ist oder das man als etwas Lichtvolles bezeichnen kann, verwandelt und Gutes aussendet. (Begrifflichkeiten möchte ich hier nicht zuviel Raum geben.) Hier kann ich von eigenen Erfahrungen sprechen, die nur durch die grundsätzliche Verbundenheit aller Wesen miteinander, zu erklären ist. Wer möchte kann an dieser Stelle vielleicht die neue Theorie der Quantenphysik bemühen, insbesondere das Thema der Verschränkung von Teilchen ist äußerst interessant. Ansonsten kann ich nur darum bitten, sich einfach darauf einzulassen und sich selbst ein Urteil zu bilden. Das ist doch immer das Beste.

So kann jede und jeder seinen „Mitgefühlsmuskel“ trainieren, und zwar durchaus auch für sich und seine vielleicht schwierige Lebenssituation selbst, für die Natur, für brennende Wälder, für die Meere und ihre Bewohner und auch für eher unliebsame Zeitgenossen, die aber vielleicht gerade unser Mitgefühl benötigen. Wem das schwerfällt, kann eben genau das zum Thema seiner Tonglen-Praxis machen.

Wen die Übung darum abschreckt, dass sie hier eingebunden in eine formelle Meditationspraxis dargestellt ist, dem sei gesagt, dass es auch die Möglichkeit gibt, sie als „Tonglen im Augenblick“, durchzuführen: Wir sehen vielleicht bestürzende Nachrichten im Fernsehen, wir erleiden akut eine schwierige Situation mit unserem Partner, jemand den wir kennen ist schwer erkrankt und wir hören gerade davon, dann kann unsere erste Hilfe dieses Tonglen sein. Für einen kurzen Moment, ein paar Atemzüge lang, sind wir bewusst verbunden, indem wir diese Nöte einatmen, durch das Lichtvolle in uns, transformieren und als helles Licht und Glück wieder zurücksenden. Wir sind nicht völlig hilflos, denn wir können mit Mitgefühl auf die Nöte und Schmerzen der Welt antworten.

Auch das kleinste Wesen ist mit uns eins und wir mit ihm.

6 Antworten auf „Tonglen- eine Praxis des Mitgefühls“

  1. Liebe Hermine, da haben wir uns wohl gestern verfehlt 😌
    Danke für deinen Blog. Viele treffende Gedanken, die dich da gerade bewegen und einiges spricht mir aus der Seele in dieser so unfassbaren Zeit , die vieles auf den Kopf stellt und alle zum Innehalten , Entscheunigen und Besinnen auf das Wesentliche auffordert. Deine Idee über die Meditation sich mit Menschen und ihren zum Teil sehr schweren Aufgaben zu verbinden ist gut und wirkt sich auf das Kollektiv aus. Bedenken habe ich jedoch die Energien in sich zu bewegen und bin, als eine vllt nicht so geübte in der Meditation, vorsichtig…. Die mein Mitgefühl und die göttliche Heilkraft, das Licht und die Liebe gebe ich gerne weiter ….
    Alles (ist) Liebe
    Tina

  2. Mir gefallen deine Gedanken, liebe Hermine, gut.
    Liebe Tina, ich möchte kurz auf deine Gedanken eingehen, weil ich sie für sehr wichtig halte. Danke dafür.
    Ich denke, Tonglen ist eine Praxis die in Zeiten der Corona-Pandemie sehr hilfreich sein kann. Ist doch Angst und Unssicherheit im Äther. Man braucht sicherlich Erfahrung mit Meditation um Tonglen zu praktizieren. Das sagen auch die verschiedensten Tonglen Lehrer*innen. Denn wenn der Geist so wild ist wie ein z.B. ein Gebirgsfluss, geht man vielleicht am Wesentlichen vorbei. Und das „Wesentliche“ ist aus meiner Erfahrung… dass letztlich nicht wir als Menschen andere oder die Welt im Ausatmen „heilen“. Wir öffnen uns mitfühlend für andere …JA. Es braucht ein Verständnis, dass es in uns eine Art heiligen Raum gibt. Dieser Raum (oder höheres Selbst/ICH BIN) transformiert Not und Leiden. Was letztlich ausgesandt wird, wissen wir nicht. Wir können aber voller Vertrauen praktiziren, wenn wir davon ausgehen, dass es diesen heiligen Raum in uns gibt. Dann müssen wir uns auch nicht sorgen, dass wir durch das Einatmen z.B. von Corona oder Änsten und Sorgen selber krank werden. Wir entwickeln einfach nur natürliches Mitgefühl … und lassen vertrauensvoll „Heilung“ geschehen.

    Alles Liebe für euch,
    herzlichst Helmut

    1. An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, zu erklären, dass es sich bei Helmut um meinen langjährigen Meditationslehrer handelt. Er war es auch, durch den ich die Praxis des Tonglens kennenlernen durfte. Zu seinen Lehrern wiederum zählten u.a. Willigis Jäger und auch Tenzin Wangyal Rinpoche und Helmut ist Begründer der Meditationslinie „Mandorla“, zu der ich mich auch zählen darf.

      Danke Tina für deine wichtigen Fragen und Anmerkungen. Danke Helmut für deine wunderbaren Worte und dass wir von deinem Wissen und deinen Erfahrungen an dieser Stelle profitieren dürfen.
      Und ich gebe den schönen Gruß gerne weiter:
      Alles (ist) Liebe,
      Hermine

      1. Gern. Ich sehe mich als „Suchender“… mehr nicht. Ein aktuelles Buch zu Tonglen ist: TonglenPraxis. Von Yesche Udo Regel. Bei ihm steht Mitgefühl sehr im Vordergrund. Ich kann es nur empfehlen.
        Liebe Grüße,Helmut

        1. Ich danke euch beiden für eure Gedanken und Worte .
          So habe ich es auch gelernt, dass ich mich im Mitgefühl und in meiner Präsenz als Kanal für die Heilkraft zur Verfügung stellen kann und mein damaliger Lehrer hat mir mitgegeben, das kann ich selbst im Gespräch, mit z. B. meinen zu betreuenden, sorgenvollen Müttern, fließen lassen. Das ist so wundervoll und mich begeistert, die Einfachheit, die darin liegt …
          Gerald Hüther, ein Neurobiologe hat ein sehr gutes Buch über die Würde des Menschen geschrieben, darin ist das Mitgefühl einbezogen….
          Alles(ist) Liebe
          wünscht euch Tina

  3. Liebe Hermine,

    gestern wurde ich auf Deinen Block aufmerksam. Ich habe mich immer schon sehr gerne mit Dir unterhalten und mich hat Deine tiefe Präsenz und Klarheit immer begeistert. Dein Block berührt mich sehr und eine Verbindung von Herz zu Herz mit allem was ist, ist einfach wunderbar und ich fühle mich auf diesem Weg sehr wohl. Ich werde das Meditieren mit diesen Ansätzen probieren und ich danke Dir sehr für diese neuen Impulse. Du hast mich angesteckt… alles Liebe in tiefer Verbundenheit Britta

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