Unorthodox – Manchmal muss man Regeln brechen.

Momentan macht ein Vierteiler auf Netflix auf sich aufmerksam. Es ist die deutsche Miniserie Unorthodox, die in Teilen auf wahren Begebenheiten beruht. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die junge „Esty“. Aufgewachsen in dem Umfeld der ultraorthodoxen Gemeinde der Satmarer Chassiden in dem New Yorker Stadtteil Wilhelmsburg, sehnt sie sich danach, frei ihr Leben zu gestalten, ihre Talente und Möglichkeiten auszuschöpfen und um ihrer selbst willen geliebt zu werden.

Doch nichts davon ist ihr in diesem Umfeld möglich. Zwänge und starre Regeln bestimmen ihr Leben bis in das kleinste Geschehen des Alltags. So lässt zum Beispiel in einer Spielszene, die Regisseurin Maria Schrader, den künstlichen Draht, den Eruv, der das jüdische Wohnviertel umspannt, reißen. Ein Eruv soll das Verbot am Sabbat Gegenstände, unabhängig von Größe, Gewicht und Zweck, von einem abgeschlossenen Bereich auf eine öffentliche Hauptstraße zu tragen, umgehen. Kurzerhand wird alles innerhalb dieser geschaffenen Grenzen, also das ganze Viertel, zu einem abgeschlossenen Bereich erklärt. Wie erwähnt reißt also der Eruv-Draht im Film und das ausgerechnet am Sabbat, an dem er natürlich auch nicht repariert werden kann. So können die Frauen in der Spielszene nicht das Gebäude verlassen oder müssen ihre tragbaren Gegenstände zurücklassen. Sogar das Tragen eines Säuglings fällt unter das Gesetz, so dass eine junge Mutter, wie am Rande der Erzählung geschildert wird, sich unvermittelt in der Situation findet, mit ihrem Kind nicht das Gebäude verlassen zu können. Und unsere Protagonistin, im Begriff heimlich ihr bisheriges Leben zu verlassen, muss ohne Gepäck ihre Reise in das ferne Berlin antreten. Sie überwindet alle Konventionen ihres alten Lebens und erkundet eine, für sie, neue Welt voller Möglichkeiten.

Die Serie ist absolut empfehlenswert. Mit eindrücklichen Bildern und überzeugenden Darstellern regt sie mich zum Nachdenken an. Ich stelle mir die Frage, wie ist es denn in meinem und unserem Leben um die Sinnhaftigkeit von Regeln, Konventionen und von, oftmals selbst verordneten, Glaubenssätzen, bestellt?  Welche Regeln können als gemeinsame Grundsätze für ein geordnetes Miteinander gelten und welche sind eher hinderlich, um ein Leben in Freiheit und Toleranz zu führen? Sicher gibt es Regeln und Vorschriften, die das Zusammenleben bestimmen, schon solange es Menschen auf diesem Planeten gibt. Auch alle Weltreligionen gaben sich Gebote und Verbote. Sie regeln außer dem menschlichen Miteinander auch das Verhalten der Menschen dem Göttlichen gegenüber. Gemeinsam ist ihnen oftmals eine, dem Menschen innewohnende moralisch-ethische Grundveranlagung, die in Werten und Normen zum Ausdruck kommt. Man findet sie unter anderem als Basis für unsere Gesetzbücher oder die Verfassungen in aller Welt wieder.  Soweit so gut. Doch alle Gesetze und Regeln sollten für die Menschen gemacht sein, ihnen Halt, Orientierung und Rahmen geben. Stattdessen treffen wir immer wieder auf Vorgaben, die, quasi als Fortführung der ursprünglichen Handlungsanweisungen, immer weiter ins Detail gehende Einschränkungen beinhalten und die eigentliche Intension ad absurdum führen. Manchmal erscheinen sie uns wie Schildbürgerstreiche und das Einhalten solcher Gesetze fällt uns schwer, weil wir den dahinterliegenden Sinn nur bedingt erkennen. Ein schönes Beispiel dafür, dass unsinnige Regeln nicht in jedem Fall befolgt werden müssen, gibt uns schon das Neue Testament. Hier ist, sozusagen der erste Fall von zivilem Ungehorsam verbrieft. Es handelt sich um die Erzählungen in der Jesus das Ährenraufen am Sabbat (Mt 12,1-8; Lk 6,1-5) und die Heilung eines Menschen mit Behinderung (Mt 12,9-14; Lk 6,6-11) an eben jenem Feiertag rechtfertigt. Mit seiner, damals revolutionären Ansicht, dass die Regeln für die Menschen gemacht sind und nicht die Menschen für die Regeln, stieß er sicherlich vielen seiner Zeitgenossen vor den Kopf. Doch heute möchten viele Menschen, und nicht nur Christen, nach diesem Vorbild handeln. Noch offensichtlicher wird die von Jesus propagierte Zeitenwende in dem neuen Gebot der Nächstenliebe. Statt wie es in den uralten Stammesgesetzen seiner Zeit noch hieß, „Auge um Auge!“- „Zahn um Zahn!“, so kommt nun eine völlig neue Sicht auf das Miteinander zwischen den Menschen und auch zwischen den Menschen und dem Göttlichen gegenüber, zum Zuge. Die Zeit um Christi Geburt kann mit einigem Fug und Recht als eine weitere Stufe der Menschheitsgeschichte auf der Leiter die Evolution gesehen werden. Zuvor konnten die Menschen mit einfachen Wahrheiten und geradezu kindlichen Logiken wie:“ Du tust mir etwas an und es soll dir genau das Gleiche geschehen!“ als Regularium ihre Auseinandersetzungen gestalten. Nun kam mit der Öffnung des Bewusstseins, weg von der Ausschließlichkeit des eigenen Egos, hin zum Mitgefühl für das andere, dass nicht „Ich“ ist, etwas gänzlich Neues in die Welt. – Gesetze sind immer auch Ausdruck der der jeweiligen vorherrschenden Bewusstseinsstufen einer Nation oder einer Epoche. Was also sagt es über Nationen aus, in denen nach altem Stammesdenken, noch die Todesstrafe vollzogen wird und/oder große Teile der Bevölkerung unter Rassismus zu leiden haben? (Interessant an der Stelle ist das Modell der Bewusstseinsstufen, dass sehr schlüssig in einer Reihe von Büchern Ken Wilbers zu finden ist. Siehe auch Buchtipps und mehr auf dieser Seite). Es ist also ganz augenscheinlich die Menschheit noch nicht als Ganzes zu diesem erwähnten Bewusstseinsschritt aufgestiegen, da zeichnet sich schon die nächste evolutionäre Revolution der Menschheitsentwicklung ab. Nun dringt mehr und mehr zu Bewusstsein, dass nicht nur alle Menschen gleichwertig, auch die Tiere werden nun von immer mehr Menschen als gleichberechtigte Mit-Wesen erkannt. Ja, die gesamt Natur und alles Sein wird nicht mehr nur als Um-Welt, sondern auch als Mit-Welt erkannt. Der Mensch lernt zu dieser Zeit, sehr schmerzhaft, wie sehr alles mit allem zusammenhängt und er eben nicht einer Umwelt gegenübersteht, sondern ein Teil des Ganzen ist. Diese Erkenntnis wird zu neuen Formen des Miteinanders führen müssen und sicher auch führen. Das wird seine Zeit brauchen und in Anbetracht der Dringlichkeit, die aus unserer Mitweltzerstörung ergibt, kann man schon auf den Gedanken kommen, durch große und kleine Aktionen des zivilen Ungehorsams die Entwicklung voranzutreiben und zumindest zu mehr Wachheit aufzurufen. Natürlich möchte ich nicht so verstanden werden, dass ich nun Anhängerin einer anarchistischen Lebensweise wäre oder sie an dieser Stelle bewerbe. Allerdings muss es erlaubt sein, einige als, allgemein gültige, Verhaltensregeln und moralistische Ansichten zu hinterfragen. Man denke nur daran, dass vor noch nicht allzu langer Zeit, schwule und lesbische Menschen als Straftäter gesehen wurden. Und sollte man das Pech haben in einer undemokratischen Gesellschaft zu leben, muss das Nichtbeachten von Gesetzen dieser Regime, als äußerst mutig angesehen werden. Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg und die Mitglieder der studentischen Vereinigung der Weißen Rose werden heute als Helden gesehen, damals galten sie vielen als Staatsfeinde und Abschaum.

Wie aber nun erkennt der Einzelne, ob er es mit sinnvollen und hilfreichen Regeln zu tun hat oder ob sie vielleicht noch Ausdruck einer veralteten Gesellschaftsform sind oder ob er aus Gründen der Einhaltung von noch höher zu wertenden ethischen Grundwerten oder als Protest gegen vielleicht eine Ungerechtigkeit, einen Regelverstoß wie eine Gesetzesübertretung begehen darf ? An dieser Stelle kommen wir an Kants Kategorischem Imperativ nicht vorbei:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Immanuel Kant

Bei Augustinus ist folgendes dazu zu finden:

„Liebe, und dann tue was du willst!“

Augustinus von Hippo (354-430)

Ich interpretiere die beiden als zwei Seiten der gleichen Medaille. Herz und Verstand müssen zusammengehen. Hier kommen mir die jungen Menschen von Friday for Future in den Sinn. Nur durch den Regelverstoß gegen die Schulpflicht haben die Schülerinnen und Schüler eine solche mediale Aufmerksamkeit erlangen können und so auf die drohenden Mitwelt-Katastrophen eindringlich hinweisen können. Zugang zu Bildung und Ausbildung sind ein hohes Gut. Sie bilden eine Grundvoraussetzung, für den Einzelnen und für die Gesellschaft, ein gutes Leben mit Perspektiven für die Zukunft gestalten zu können. Doch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben auf intellektueller Weise erkannt, dass es für sie keine Zukunft ohne intakte Natur geben wird. Ihr Herz, voll Empathie für eine bedrohte Erde und der auf ihr lebenden Kreaturen, machten ihnen nicht den Regelverstoß möglich, sondern einen Nicht-Verstoß unmöglich. Ich sehe die jungen Menschen beispielhaft als Vertreter auf dem Weg zu einer neuen Bewusstseinsstufe, die sich nun langsam erhebt, die alte Gesetze in Frage stellt und sich neue Richtlinien und neue Orientierung für ein Miteinander geben muss, um in mehr Einklang mit Natur und allen Mit-Wesen leben zu können.

Fridays for Future in Minden

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert