Vor Kurzen hörte ich im Radio von einer bemerkenswerten Studie, die mit Kindern im Alter von zwanzig Monaten durchgeführt wurde. Es sollte untersucht werden inwieweit Altruismus als eine natürliche Veranlagung im Menschen vorhanden ist oder ob erst durch pädagogische Anleitungen, auf Grund der gesellschaftlichen Erwartungen, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft erlernt werden muss. Die Kinder wurden in drei Gruppen eingeteilt. In der ersten Versuchsgruppe versuchte ein Erwachsener, im Beisein eines spielenden Kindes, eine Tür zu öffnen, während er die Arme voller Bücher und so keine Hand frei hatte.
Ohne Zögern sprang das jeweilige Kind auf und öffnete die Tür für den Erwachsenen aus eigenem Antrieb. Es hatte erkannt, dass Hilfe nötig war und zeigte ganz natürliche Hilfsbereitschaft. In dann ähnlicher Situation reagierten diese Kinder bei einem zweiten Versuch auf gleiche Weise hilfsbereit. Die Kinder einer zweiten Gruppe erhielten für ihre Hilfsbereitschaft im ersten Versuch ein Lob und die dritte Gruppe sogar ein Geschenk. In der Gruppe der Kinder, die gelobt worden waren, zeigte sich kaum ein Unterschied zu der ersten Gruppe im zweiten Durchgang. Hingegen sank die Bereitschaft zu helfen bei den Kindern, die für ihre Hilfe beim Türöffnen im ersten Testversuch ein Geschenk erhalten hatten, deutlich. Sie waren ohne materiellen Anreiz nicht mehr ohne Weiteres bereit zu helfen. Die Erkenntnisse aus dieser Studie belegen also, dass der Mensch seiner Veranlagung nach, ein mitfühlendes und altruistisches Wesen ist. Und noch weiter belegen sie, dass die Idee für alles eine sofortige Gegenleistung zu erhalten oder zu geben, eher dem mitfühlenden Handeln widerspricht. Im Grunde ist doch die Erkenntnis aus dieser Studie eine wunderbare und belegt auch die Aussagen vieler spiritueller Traditionen. So können wir eigentlich auch im Geben und Nehmen voller Vertrauen in die natürlichen Abläufe des Lebens sein. Geben und Nehmen sind nur die beiden Seiten derselben Medaille. Jedes Geschenk, sei es materiell oder ideell kann voller Dankbarkeit und Hingabe angenommen werden. Ganz ohne Hintergedanken nehmen ist allerdings nicht so einfach, wie es sich anhört. Denn unsere Kultur und Gesellschaft scheint sich doch schon lange in eine andere Richtung zu bewegen. Der Gedanke, dass wir etwas nehmen, ohne vielleicht eine Gegenleistung dafür erbringen zu können, hindert viele Menschen daran, aufrichtige und einfache Dankbarkeit überhaupt zu empfinden. Denn vor die Dankbarkeit schiebt sich oft die Idee von Schuld. Wer ist schon gerne jemandem etwas schuldig? Und woher überhaupt kommt dieser Glaube an Schuld oder daran, dass man Gleiches mit Gleichem vergelten muss?
Was bedeutet das für unseren Lebensalltag? Welche Auswirkungen hat dieses Denken auf unseren ureigensten Wesenskern als mitfühlender Mensch? Der Glaube an den Kapitalismus, denn um ihn handelt es sich zugespitzt ausgedrückt, prägt auf eine Art mehr unser individuelles Leben, als uns vielleicht bewusst ist. Irgendwie scheint doch alles käuflich zu sein oder zumindest nach dem Prinzip des direkten Handels zu funktionieren. Das gilt nicht nur für materielle Geschenke an Geburtstagen, Weihnachten und zu anderen Anlässen, sondern auch für kleinere und größere Gesten der Unterstützung wie zum Beispiel bei einer Nachbarschaftshilfe oder ähnlichem. „Der hat mir aber schon oft geholfen. Dann muss ich ja jetzt wohl auch…“. Dann kommt man schnell dazu kleinlich zu werden und eifersüchtig andere zu beäugen, ob jemand vielleicht vom Leben begünstigter erscheint als man selbst. Hat er das verdient und womit? – Hier spürt man hinter allem den subtilen Leistungsgedanken, der unsere Gesellschaft prägt und mit dem man scheinbar, wie die oben genannte Studie beweist, schon kleinen Kindern die angeborene altruistische Hinwendung zu unseren Mitmenschen und wahrscheinlich auch zu allen unseren Mit-Wesen auf diesem Planeten, abtrainiert.
Doch das muss kein unumkehrbarer Vorgang sein. Im Grunde ist nur ein Nicht-Festhalten nötig; ein Loslassen der eingefahrenen Gedankenstrukturen von Schuld und Leistung. Nicht mehr die Frage nach dem was mir nützt oder ob ich „würdig“ genug bin, sondern die Frage nach dem was ich der Welt zu geben habe und wie ich freudig dankbar sein kann, soll und kann unser Denken und Handeln bestimmen. Mit der Erkenntnis, dass unser Alltagsbewusstsein unsere Trennung von der Welt als ein Gegenüber nur vortäuscht und in Wahrheit alles mit allem in Verbindung steht, geschehen Geben und Nehmen auf ganz selbstverständliche Weise. Wie und warum sollte ich jemandem auch etwas vorenthalten oder ihm meine Hilfe verweigern, wo ich doch im tiefsten Grunde des Seins, damit nur mir selbst schade. Im großen Kosmos der Verbindungen und Beziehungen unserer Welt wird sich alles ausgleichen, wenn ich bereit bin meinen Teil dazu beizutragen und mich auf eine innere Weise vielleicht sogar selbst hinzugeben. Wie einfach, schön und leicht plötzlich jegliches Miteinander wird, wenn erst die vermeintliche Trennung zu allen Menschen und Wesen, in meinem Denken aufgehoben wird. So erst werden Geschenke zu echten Herzensgaben, die keinerlei Gegenleistungen erwarten. Das Annehmen eines Geschenkes geschieht dann freimütig, freudig und ohne Hintergedanken. An dieser Freude wiederum kann sich der Geber beschenkt fühlen. Wunderbar! Selbst Dankbarkeit empfinden zu dürfen ist schon ein großes Geschenk an sich. Wir sollten uns tatsächlich jeden Tag darin üben, dankbar zu sein. So werden wir in unserem Herzen eine Tiefe ausloten, die möglicherweise zuvor von Ignoranz und Trägheit verschüttet war. Dankbarkeit stellt sich fast augenblicklich von selbst ein, sobald man alles Gute, was einem widerfährt nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit ansieht. Wir müssen uns vor Augen führen, dass niemand ein verbrieftes Anrecht auf Gesundheit, Wohlstand oder ein langes Leben hat. Die Vorstellung von einem sorgenfreien Dasein ist trügerisch. Statt ängstlich an diesen Konzepten festzuhalten, die uns nur vom wahren Leben abhalten, ist es dem Interbeing zufolge nur richtig, wenn wir auch am anderen unsere gegebenen Talente einsetzen. Das Ziel unseres Daseins kann nur heißen, Leid gemeinsam zu tragen, zu trösten, Freude zu mehren und mit der Welt im Einklang zu sein. Was auch bedeutet, allen fühlenden Wesen und allem Leben auf unserer Erde den gebührenden Respekt zu zollen, indem wir die Gaben, die uns Mutter Erde schenkt, dankbar annehmen.
Im Gegensatz zum westlichen Lebensstil, der die Natur lieblos ausgebeutet hat, hat die Kultur der jahrhundertelang missachteten und missverstandenen und als unzivilisiert verschrienen Indigenen, der Natur nur das Nötigste entnommen, jedoch nie ohne ihr wieder etwas zurückzugeben. Heute wissen wir, dass die indigenen Völker die wirklichen Bewahrer der Erde sind. Doch auch wir tragen in uns ein natürliches tiefes Gespür für das Heilige in allem Sein. Im Brauch des gegenseitigen Beschenkens wird auch das Heilige in uns Menschen geehrt. Wie immer ist die Haltung entscheidend und die Intension, mit der wir geben und empfangen.