Nicht-Wissen: Ein Zustand den man (aus)halten kann.

Wenn man sich alle Telekommunikationsmittel weltweit, wie Computer, Smartphone oder dergleichen, als ein gigantisches Neuronen-Netz, als ein durch weltweite Massen gesteuertes Hirn sozusagen, denkt, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass in und seit den letzten Wochen dieses Mega-Hirn ständig neue Synapsen ausbildet und ohne Unterlass aktiv ist und Daten in alle Richtungen „abfeuert“.

Jedenfalls hat sicherlich jede und jeder diese Aufgeregtheiten an seinem eigenen kleinen Endgerät beobachten können. Da wurden und werden, auch wenn das Neuronen-Gewitter (Umschreibung der Epilepsie) in diesem digitalen Gehirn vielleicht gerade nicht mehr so extrem spürbar ist wie noch vor ein paar Wochen, unglaubliche Datenmengen in kürzester Zeit von den verschiedensten Seiten, von alten Bekannten, guten und weniger guten Freunden, lieben Verwandten usw., hauptsächlich via Mobiltelefon, an uns herangetragen. Im besten Falle handelt es sich um gutgemeinte und auch wirklich nette oder sogar hilfreiche Durch- und Zusammenhalte- Beschwörungen und kleine Mutmacher in schwierigen Zeiten. Oftmals aber landen zum Beispiel Youtube-Videos über Verschwörungstheorien von angeblichen Wissenschaftlern auf unseren Telefonen, dem perfekten Medium, um deren Weltsicht schnell und effizient zu verbreiten. Ihnen gemein ist ihre Behauptung, als Einzige die wirkliche Wahrheit zu kennen und sie nehmen auf die Weise in Kauf oder vielleicht entspricht es sogar ihrer Absicht, ein Bild von einem Gegeneinander innerhalb unserer Gesellschaft zu zeichnen. Nun ist die erste Welle der Informationsüberflutung über uns hinweg gebrandet und hinter uns im Sand verlaufen. Dennoch müssen wir uns nicht in Sicherheit wiegen. Der nächste Datentsunami braut sich schon in der Ferne zusammen.

Gerade im Zuge der Corona-Pandemie wird deutlich wie wichtig uns Menschen ein sicherer Anker, auch im Kleide eines echten oder auch vermeintlichen Wissens um Zusammenhänge, und der so einfacheren Einordnung des gesamten Problems ist. Die weltweite Corona-Pandemie soll hier nur als ein Beispiel für das menschliche Streben nach Sicherheit durch Erkenntnis und dadurch nach einem beruhigenden Einordnen von völlig neuen Herausforderungen und Gegebenheiten und uns bislang unbekannten Gefahren dienen. Gefahren, die wir gerade noch mit wohligen Schauern als Science Fiktion-Film im weichen Kinosessel oder von unserem heimeligen Sofa aus, als etwas, was uns hier nie wirklich betreffen würde, entspannt genossen haben. Doch nun ist die, weit entfernt und hier unmöglich geglaubte Gefährdung, durch einen bislang unbekannten Krankheitserreger, tatsächlich zu uns gekommen. Sie ist zum Greifen nah und doch für die meisten Menschen hier in Deutschland (zum Glück) noch recht abstrakt. Man sieht die Bedrohung nicht und kann sie weder schmecken noch riechen. Sie zeigt sich fast ausschließlich in den allabendlichen Fallzahlen des RKI, von freundlichen Nachrichtensprechern vorgetragen, und in einem Katalog von immer neuen Verhaltensregeln. Wir alle kennen das. Oft sind Angaben widersprüchlich und über das Einordnen und die Aussagen mancher Daten, ob sie nun in relativen oder in absoluten Zahlen daherkommen, kann man wahrscheinlich auch oftmals geteilter Meinung sein. Selbst, oder gerade, seriöse Institute und namhafte Wissenschaftler rund um den ganzen Erdball geben zu, der echten Lösung hinter allen Fragen rund um dem Virus „Covid 19“, noch auf der Spur zu sein und noch lange nicht alle Zusammenhänge entschlüsselt zu haben. Mich persönlich beruhigen paradoxerweise solche Aussagen eher. Zumindest geben sie mir das gute Gefühl, dass man auf ehrliche Art mit der Sache umgeht und niemand mich unnötig zu Handlungen, wie eine Mund-Nasen-Maske zu tragen und Opfern, wie Kontaktbeschränkungen, zwingt, oder was noch schlimmer wäre, reale Gefahren relativiert. Ich habe so eher das Gefühl, mit allen in einem Boot zu sitzen und gehe alle Maß- und Verhaltensregeln völlig frei-willig mit. Zu keiner Zeit fühlte und fühle ich mich persönlich unfrei oder zu solchen Vorsichtsmaßnahmen gezwungen.

Bei allen drängenden Fragen, Problemen und berechtigten Sorgen, steht die eine Gewissheit: Es gibt mehr Fragen als Antworten! Wir wissen eben noch nicht, welche genauen Auswirkungen eine solche Infektion und deren Verlauf für den Einzelnen und ganze Bevölkerungsgruppen haben kann. Führt eine durchgemachte Erkrankung zu einer Immunisierung?  Wird es so etwas wie eine Herdenimmunisierung überhaupt geben? Und wenn, unter welchen Voraussetzungen riskieren wir die Erkrankung von Risikogruppen? Wissenschaftler, Politiker und wir als Teil der Gesellschaft können noch nicht genau wissen, wie sich wiederum alle Vorsichtsmaßnahmen oder auch derzeitige Lockerungen im Endeffekt auf unsere Wirtschaft, unser soziales Miteinander und auf unsere Kinder auswirken werden.  Sicher ist, dass es in den Lebensentwürfen Einzelner und auch der, ganzer Nationen, zu Brüchen kommen wird. Nichts wird so bleiben, wie es zuvor war. Eine große Veränderung, ein neuer Weg hat ihren Anfang genommen und keiner von uns weiß wohin genau die Reise geht.

Und hier möchte ich den Fokus etwas weg von den aktuellen, konkreten Themen lenken auf eine allgemeinere Sicht auf die Dinge.

Denn auch zu fast jeder existenziellen Frage des Lebens sehen wir uns der Tatsache gegenüber, nicht wirklich zu wissen wohin die Reise geht oder, um im Bild zu bleiben, wie der Kompass zu lesen ist. Auch die Antworten der Wissenschaft sind immer nur Momentaufnahmen, sind Stand eben der derzeitigen Erkenntnis. Zugegebenermaßen gelten viele Rätsel der Menschheit als gelöst. Der Glaube an eine Erde als Scheibe liegt weit hinter uns. In einer vermeintlich aufgeklärten Welt zu leben, die mit ihrer Technologie bis in das Weltall oder bis in die Zellkerne der Lebewesen vordringt, gaukelt uns jedoch nur eine relative Erkenntnis und trügerische Sicherheit vor. Denn jede neue Einsicht birgt in sich wieder neue Geheimnisse und Herausforderungen. Und noch wurde an den wirklich relevanten Fragen unserer Zeit, wie denen nach der grundsätzlichen Erhaltung der Lebensgrundlagen sämtlicher Wesen unseres Planeten, der Frage nach der gerechten Verteilung der begrenzten Ressourcen und der Frage nach den „Dingen hinter den Dingen“, Stichwort Quantenphysik, bislang nur gekratzt. Was bleibt ist Sokrates´ Erkenntnis, (griech. Philosoph 469-399 v.Chr.):“Ich weiß, dass ich nicht weiß!“  

Natürlich weiß man nicht nichts, sondern eben nicht alles. Aber genau dessen ist man sich bewusst. Eigentlich drückt diese Erkenntnis über das Nicht-Wissen zum einen eine Art Demut aus, ohne aber in Resignation zu fallen. Und zum anderen schwingt für mich in dem Ausspruch etwas mit, dass man vielleicht als ehrfurchtvolles Staunen bezeichnen könnte; ein Staunen vor der Komplexität der Zusammenhänge und vor den letzten Fragen, auf die die Menschheit wohl wahrscheinlich niemals eine endgültige umfassende Antwort finden wird.

Wie nun halten wir dieses augenscheinliche Dilemma von notwendigem Forschen und Suchen nach Wissen und Wahrheit auf der einen Seite und der Erkenntnis, dass es eben nicht immer gleich Antworten auf alle Fragen gibt, auf der anderen Seite, aus? Ganz simpel und zugleich doch nicht einfach: durch „Aushalten“. Wir sollten uns dieses Nicht-Wissens bewusst sein, es halten vielleicht wie einen wertvollen Schatz und es hüten. Wir können unsere unbeantworteten Fragen an die Zukunft oder die der großen Zusammenhänge betrachten und von allen Seiten liebevoll ansehen. Je komplexer unsere Fragen und Probleme sind desto mehr Zeit sollten wir uns, privat im Kleinen, wie auch als Menschheit im Großen, für sie nehmen. Vielleicht beleuchten wir sie von verschiedenen Seiten? Wir können sie womöglich durch unterschiedliche Gläser ansehen, wie das der Ethik vielleicht oder das der Ökonomie? Immer spielen verschiedene Dimensionen und Aspekte eine Rolle. Wir können andere Menschen mit anderen Hintergründen darauf schauen lassen oder sie sogar einige Zeit in einem Schwebezustand halten und auf günstige Momente warten, denn Zeit hat meiner Meinung nach auch eine Qualität und ist vielleicht nur noch nicht reif für bestimmte Erkenntnisse. Wahrheit braucht Zeit.

Vielleicht gibt es aber gerade keine Lösung für ein Problem und trotzdem müssen wir reagieren, sollen uns entscheiden? Entscheidungen haben immer auch mit Nicht-Wissen zu tun. Denn wenn ich alle Zusammenhänge und Konsequenzen wüsste, dann müsste ich mich nicht ent-scheiden, sondern könnte ungeteilt einen Weg gehen. So aber muss abgewogen werden und das geschieht am besten nicht unter Zeitdruck, sondern in Ruhe. Unsere Politiker können dieser Tage sicher ein Lied davon singen, wie sich so eine Entscheidungsarbeit anfühlt. Gut, wenn sie sich nicht unter Druck setzten lassen und gut, wenn wir ihnen dabei helfen. Eine Möglichkeit dies zu tun ist es, wenn wir nicht reflexhaft durch einen Klick jeden Link zum Beispiel zur Corona-Krise weiterleiten und in Sekundenschnelle an der Verbreitung von Verunsicherung teilhaben, sondern uns in Ruhe überzeugen, welche Quelle dahinter steht und mit welcher Intension es die Runde macht. Gerade die schnelllebigen Kurznachrichten haben keine Eile und man sollte sich die Zeit nehmen sie nach dem Rat des Dichters und Mystikers Rumi (1207-1273) durch drei Tore gehen zu lassen: „Beim ersten Tor frage: „Sind sie wahr?“ Am zweiten Tor frage: „Sind sie notwendig?“ Am dritten Tor frage: „Sind sie freundlich?““

Im persönlichen Umfeld kann es tatsächlich gut sein, den alten Rat zu befolgen und eine oder mehrere Nächte über einem Problem zu schlafen, es also zu halten und die Frage vielleicht im Hintergrund zu weiterzubearbeiten. Es also nach einer bewussten Betrachtung von allen Seiten, in der Schwebe zu halten. Manchmal kann es dann passieren, dass das Problem sich als gar nicht mehr so drängend herausstellt oder die Lösung sich wie von selbst zeigt.

Aber vielleicht bleibt das Problem auch bestehen. Nun, dann ist auch das so. Wir können auch diesen Zustand aus-halten. Ganz bewusst. Als Teil unseres Lebens, nehmen wir liebevoll an, was nicht gewusst werden kann.

In ruhiger Stimmung das Nicht-Wissen halten….

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