Der alte Mann kauert vor einem kleinen selbstfabrizierten Esbit-Kocher, den er aus einem Scheuerschwamm aus Stahlwolle gebastelt hat; darauf eine metallene Tasse. Es regnet und über sich hält er einen alten Regenschirm. Als ich näher komme kann ich auch sein Gefährt, in dessen Windschatten er sich aufhält, erkennen. Es ist ein längerer Lastenanhänger, auch der Marke Eigenbau, der gestaltet wie ein Planwagen aus alten Westernfilmen, ihm wohl offensichtlich als Schlafplatz und Aufbewahrungsort für seine Habseligkeiten dient. Statt eines Pferdegespanns, ist, vor dem eigenwilligen Heim ohne festen Wohnsitz, ein rostiges, einfaches Fahrrad gezwungen.
Auch der Mann sieht aus, als wäre er irgendwie aus seiner Zeit gefallen. Ich muss an den amerikanischen Bürgerkrieg denken. Wie er da so im Regen an der Weser hockt, seinen Kaffee beim Warmwerden begleitet, mit Bundeswehr Schiffchen auf dem Kopf und Colani-Jacke über seinem Militärpullover, mit grauem Bart und müdem Gesicht, sieht der Mann tatsächlich aus wie ein Soldat der nach dem Krieg vielleicht heimwärts zieht oder wie einer der gar nicht mehr weiß, ob er eine Heimat hat und wo.
Er wirkt, als hätte er viel Zeit. Keine Eile treibt ihn voran, kein Ziel, das erreicht werden muss. Er macht seine frühmorgendliche Rast mitten auf freier Strecke. Die Brücke, die ihm Zuflucht vor dem Wetter hätte geben können, hat er hinter sich gelassen. Die Bank, von ferne schon zu sehen, auf die er sich hätte setzten können, wird von ihm nicht abgewartet. Er macht jetzt Pause, nicht in zwanzig Metern.
So treffe ich ihn bei meinem ersten Gang des Tages mit unseren Hunden. Einen wahrhaft ungewöhnlichen Anblick entbietet dieser Morgen. Und auch unsere Begegnung ist nicht von der alltäglichen Art. Die Melodie seiner Stimme lässt unzweifelhaft darauf schließen, dass die Reise des Fremden irgendwann im Süddeutschen begonnen haben muss. Und noch etwas wird mir im Verlaufe unseres Gespräches schnell klar. Dieser Mensch leidet unter einer seelischen Erkrankung, die sicher im medizinischen Fachjargon als Psychose geschrieben würde. Tatsächlich ist seine Erzählung über sein Leben, von dem schlimmen Wahn, verfolgt zu werden und überall einen Hinterhalt zu vermuten, geprägt und seine Sicht auf die Ereignisse während seiner Reise lassen ihn weiter und weiter ziehen, wie durch Feindesland.
Aber heute am Morgen, als wir uns begegnen, herrscht Frieden und alles ist ganz ruhig. Er berichtet und ich höre zu. Die schlimmen Dinge, von denen er erzählt, sind ihm wirklich zugestoßen. Jedenfalls in seiner Wahrnehmung ist das so und die ist eben für ihn der Spiegel der Wirklichkeit und alles was er hat. Aber um seine Ver-rückt-heit scheint er doch zu wissen, denn ihm ist klar, dass er nicht in eine Psychiatrie möchte, denn es ginge ihm ja gut, solange er auf Reisen sein kann und seinem inneren Auftrag folgen. Von ganzem Herzen wünsche ich ihm zum Schluss unseres Gespräches, als bekannte, moderne Form des üblichen Reisesegens, eine gute Weiterreise und mahne, er möge auf sich aufpassen. Er werde schon gut beschützt sagt er dann und weist mit den Augen nach oben zu dem wolkenverhangenen Himmel, aus dem anhaltend der leichte Regen fällt. Der Händedruck zum Abschied ist herzlich. Wir lächeln uns an.
Ich gehe heimwärts und als ich mich später zu dem alten Mann umdrehe, da ist er wieder seinem Kaffee zugewandt und würde ein außenstehender Beobachter die Szene vor und nach unserer Begegnung beschreiben müssen, so würde dieser keinen Unterschied in dem Bild des Mannes, das sich ihm bietet, feststellen können. Doch etwas hat sich verändert. Ganz deutlich spüre ich in mir, dass ich eine besondere und außergewöhnliche Begegnung hatte, die zumindest mich verändert zurück lässt. Für einen Moment waren der fremde Mann und ich verbunden gewesen. Verwoben durch ein unsichtbares Band; zwei Seelen im großen Kosmos haben sich erkannt. Ob er es wohl auch verspürt hat?
Was unterscheidet nun so eine wahre Begegnung, wie ich sie nenne und hier als Beispiel beschrieben habe, von anderen „normalen“ Treffen zweier oder mehrerer Menschen?
Gemeinsam ist der üblichen Form von Begegnung und der wahren Begegnung, dass sie immer auf der einen Seite eine Aktivität bezeichnet, z.B be-schreiben, be-achten, be- geistern, be-fingern, be-muttern usw. Sie enthält also immer einen aktiven Anteil. Im Gegensatz dazu steht der passive Aspekt. Etwas wird be-schrieben oder be-tastet.
Was bedeutet das nun für eine wahre Be-gegnung? Nach meinem Verständnis kommt dort der aktive und der passive Anteil gleichermaßen und gleichwertig zum Tragen und sie geschehen wechselseitig. Das bedeutet, dass im Aufeinandertreffen z.B. zweier Menschen, ein gegenseitiges Be-fruchten und ein gegenseitiges Be-eindrucken stattfindet. Jeder der Beteiligten ist also gleichermaßen gebend und nehmend. Als Indikator für eine solche Begegnung können vielleicht folgende Erfahrungen von Empfindung dienen:
Wahre Begegnung berührt immer das Herz. Sie schafft augenblicklich Nähe und wertet nicht. Das heißt, Vorurteile und Konventionen verstellen nicht den Blick auf mein Gegenüber und stehen somit nicht als intellektuelle Barriere zwischen den Parteien. Eine wahre Begegnung bleibt im Gedächtnis und hinterlässt ein tiefes Gefühl von Freude, wie über ein besonderes Geschenk, dass man unerwartet bekommen hat oder die Freude, die man empfindet, wenn man selbst ein Geschenk von Herzen erbracht hat. Da man gleichzeitig Gebender und Beschenkter ist, sollte das ja auch nicht weiter verwundern. Diese Wechselseitigkeit bewirkt natürlich, dass auch ich „erkannt“ werde und nicht nur mein Gegenüber von mir. Vielleicht erklärt das die heitere und beschwingte Stimmung, die sich während und nach einer solchen Begebenheit einstellt. Dabei spielt die Dauer der Begegnung keine Rolle. Ein Augenblick, im wahrsten Sinne des Wortes, reicht aus, intensive Nähe zu verspüren. Vielleicht erkennt der göttliche Funke in dem eigenen Selbst den gleichen Anteil im Gegenüber auf einer Ebene, die nicht rational zu fassen ist und auch kaum zu beschreiben.
Wäre es möglich, jede alltägliche Begegnung zu einer wahren Begegnung werden zu lassen? Ich kann bei mir beobachten, dass Erfahrungen dieser Art in den letzten Jahren vermehrt auftreten oder genauer gesagt, von mir wahrgenommen werden können. Vielleicht lässt die Praxis der Meditation auch, ganz wie nebenbei und zufällig, die Fähigkeit des Mitgefühls und der Verbundenheit wachsen und dadurch andere Erfahrungen im Alltag bewusst werden. Dann wäre das tatsächlich der Beweis, dass unser Blick auf die Welt nur bruchstückhaft ist und unsere vermeintliche absolute Realität, der wir ver-rück-terweise anhängen, nur ein Durchgang ist, hin zu einer umfassenderen Wahrheit. Was, wenn wir und das was uns umgibt, gar nicht wirklich getrennt voneinander sind und auch unsere vermeintliche Objektivität in Hinsicht auf unsere Weltsicht, nur die Wirklichkeit im Zerrspiegel einer eingeschränkten Wahrnehmung, darstellt, so wie bei dem Mann auf Reisen? Dann wären wir tatsächlich in einem krank- und wahnhaften Zustand, den wir sinnvollerweise überwinden müssen oder wir bleiben in diesem Wahn verhaftet, müssen einsam immer weiterziehen, auf der Suche nach Frieden im Innen und Außen.
Der Glaube an Trennung, an die Geschichte der Separation, ist die Krankheit, die unsere Zivilisation quält und zermürbt und an den Abgrund geführt hat. Wie Charles Eisenstein in seinen Büchern empfiehlt, sollten wir uns neue Geschichten erzählen, neue Glaubenssätze prägen, nämlich die von der Verbundenheit, mit allem was lebt. Das ist es, was uns und unserem Planeten Heilung bringen kann.
Die Medizin dazu heißt: durch Liebe, Offenheit und Bewusstheit, das Wunder im Nächsten und in ihm seinen göttlichen Anteil, zu erkennen. Es geht eigentlich nur darum die Augen zu öffnen und zu sehen was ist. Dann erkennen wir, dass Nichts nicht eine wahre Begegnung sein kann. Den Unterschied macht nur die eigene Wahrnehmung.