Wer kennt das nicht? Die Arme sind weit geöffnet. Der Blick geht nach oben und sucht den des Kindes. „Jetzt spring! Ich fange dich!“ Und dann, nach vielleicht einigen Sekunden der Unsicherheit und des beunruhigenden Gefühls im Bauch, öffnet das Kind seine Hände, löst die Umklammerung des Klettergerüstes oder des Astes und lässt sich fallen. Geradewegs in die Arme, die Schutz, Sicherheit und Geborgenheit versprechen. Was für ein Vertrauensbeweis! Laut tönt das befreiende Lachen aus zwei Kehlen. Das Kind hat seinen Mut bewiesen, hat seine Furcht überwunden und je öfter es im Leben die Erfahrung des nicht enttäuschten Vertrauens machen darf, umso besser wird es nun auch späteren Anforderungen des Lebens gewachsen sein.
Vertrauen in das Leben kann man erlernen, auch durch solche kleinen Mutproben. Die meisten von uns werden diese oder vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Trotzdem überwiegt oftmals die Furcht vor dem Leben an sich und den unvermeidlichen Veränderungen, die es zwangsläufig mit sich bringt. Denn, um im Bilde zu bleiben, natürlich werden wir nicht auf dem Ast bleiben können, auf den wir uns gerettet haben. Wir können ihn nicht ewig umklammert halten.
Die Furcht vor Veränderung ist weit verbreitet. Jede kennt sie. Und doch ist es eigentlich ein wunderliches Phänomen, da nichts in unserem Leben ewig Bestand hat und einfach absolut alles einem Wandel unterlegen ist. So sollte die Gewissheit der beständigen Unbeständigkeit uns weder überraschen noch beängstigen, denn sie gehört zu unserem Erfahrungsschatz und ist doch so alltäglich. Auch der Mensch an sich, du und ich, wir sind der Veränderung unterworfen. Wir werden geboren, wachsen auf und kaum sind wir zu Verstand gekommen, geht es auch schon ans Altern. Am Ende steht der Tod – der größte individuelle Wandel – als einzig sichere und somit berechenbare Größe.
Mephisto in Goethes „Faust“ schon wusste: „Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, mein eigentliches Element.“ – Jedoch genau dieses Denken, dieser Geist ist es, der uns verführt zu einer ängstlichen und negativen, das Leben verneinenden, Weltsicht. Die Angst vor Veränderung ist eigentlich die Angst vor dem Leben. Sie kann sogar so weit gehen, dass Menschen an alten Mustern im eigenen Leben festhalten, die augenscheinlich immer wieder, wie eine Dauerschleife, auf, für die Person, schädliche Pfade, führen. Manch andere halten sogar den Ast mit Namen: „Meine Krankheit“ krampfhaft umklammert, da es scheinbar eine Konstante im Leben birgt, die trügerische Sicherheit verspricht. Was könnte nicht alles geschehen, wenn man den Ast losließe und sprünge? – Zudem ist Mephistos Sicht auf die Dinge nicht richtig, da sie nur eine Seite der Medaille aufzeigt. Was er uns hier verschweigt ist, dass es auch das Gute gibt, wo sich das vermeintlich Böse zeigt. Wo Schatten ist, da muss auch Licht sein. Und so ist hinter jeder Veränderung immer auch beides zu finden.
Als Phänomen, das zurzeit grassiert und ich sowohl in den Medien als auch in meinem Umfeld oft wahrnehme, ist die Sehnsucht nach dem „alten“ Leben. Gemeint ist natürlich, das gewohnte Leben vor Corona. Zugegebenermaßen hat die ganze Welt einen nie dagewesenen Wandel erfahren. Das angestammte Gefüge ist in Schieflage geraten. Dieser Wandel ist so umfassend, dass er für den menschlichen Geist schwer zu greifen ist. Alles was wir in unserem Dasein als gegeben und sicher erfahren haben, entgleitet unserem Griff. Ökologische, ökonomische und besonders auch soziale Folgen der Krise sind noch lange nicht überschaubar und machen die Welt leiden. Ist es da nicht naheliegend den Blick zurückzuwenden und uns wieder auf den bequemen, breiten Ast zu wünschen? Sicher, nicht alles war gut dort, aber so herrlich bekannt! – Bei allem Verständnis für diese Idee und bei aller Trauer darüber, dass man auch, wirklich Liebgewonnenes, loslassen muss, teile ich die Denkweise nur bedingt bis gar nicht. Was nicht bedeutet, dass nicht auch ich menschliche, insbesondere körperliche Nähe, ohne Abstands -und Maskenpflicht, erhoffe, denn das ist ein Grundpfeiler des menschlichen Daseins. Aber selbst bei diesen grundlegenden Bedürfnissen müssen wir nicht nur geduldig sein, sondern uns auch in Gleichmut üben. Wenn wir klug und achtsam sind, wird viel an Zwischenmenschlichem in dem Bereich wieder möglich sein. Und das ist wirklich eminent und von entscheidender Wichtigkeit. Doch auch hier ist das „wie“ noch nicht bestimmt und die Dinge sind im Fluss, wie man so schön sagt.
Bei vielen anderen Umbrüchen, die die Pandemie uns auferlegt, bin ich sogar voller Hoffnung, dass es zu grundlegenden Veränderungen, zu längst überfälligen Reformen kommt. Aus meiner Sicht wäre es schön und wünschenswert, wenn die Menschheit die Gelegenheit nutzen würde und eben nicht zurück zu Althergebrachtem strebt. Oder wer will schon so schnell zurück zu den Auswirkungen des uneingeschränkten Flugverkehrs, den verdeckten Gewässern und abgasverpesteter Luft? Dorthin scheinen wir allerdings schon auf den Weg zu sein. Schade! Aber noch ist es nicht zu spät. Lasst uns aus der Krise gestärkt hervorgehen. Wo die Notwendigkeit zu Veränderung besteht, zeigt uns Corona durch ihre Auswirkungen deutlich auf. Das Gefälle zwischen reich und arm muss überwunden werden. Eine Pandemie kann nur global angegangen werden. So wird die westliche Welt gezwungen genau hinzusehen, wenn es z.B. um die gerechte Verteilung des Impfstoffes gegen Covid-19 an alle Länder und Kontinente geht. Ein Weiter so nach dem Motto: „Der reiche Westen zuerst!“ kann es dann nicht mehr geben.
Durch den pandemiebedingten Wegfall der Arbeitsmöglichkeiten ganzer Berufsgruppen, durch den dadurch immensen Anstieg an Privatinsolvenzen und eine Zunahme der Armut, auch in unserm reichen Land, besteht nun unübersehbar die Notwendigkeit sich Gedanken zu machen, ob die Fortführung einer rein auf Wachstum ausgerichteten, kapitalistischen Gesellschaft noch wirklich zeitgemäß ist. Oder könnte in Zeiten des Umbruches nicht zumindest der Beginn einer neuen Ordnung angedacht und angegangen werden? Mir schwebt da eine grundsätzliche Veränderung, ein wirklicher Paradigmenwechsel, zu einem gerechteren Miteinander, vor. Warum sollte die Idee des bedingungslosen Grundeinkommen nicht einmal unvoreingenommen überprüft werden?
Wie tief die Zweiklassengesellschaft greift, hat sich während der Corona-Zeit in unseren Schulen gezeigt. Ich hoffe sehr, dass unsere Politikerinnen aus den derzeitigen Erkenntnissen die richtigen Schlüsse ziehen und in Sachen Bildungsgerechtigkeit gerade die Veränderung suchen und neue Wege nicht scheuen.
Was für die große Politik gilt, ist auch für jede und jeden Einzelnen wahr und richtig. Nehmen wir doch diese Krise auch als Chance, schon lange zuvor bestehende Probleme anzusehen und anzugehen. Wenn ein Weiterklettern nicht mehr möglich ist, ist es Zeit dem Leben zu vertrauen. Das wird möglich, wenn wir genau hinschauen und nicht wegsehen, wenn wir nach vorne blicken und nicht nur zurück. Wer das Leben will, muss Veränderungen zulassen oder sie sogar suchen. Denn Leben ist Veränderung. Meine Erfahrungen haben mir gezeigt, dass das Ende eines Weges nicht das Ende der Reise bedeutet, sondern vielleicht einfach nur das Verlassen eines ausgetretenen Pfades. Lasst uns neue Wege gehen.
Ich wünsche uns allen, dass wir neugierig bleiben auf die Zukunft, die vor uns liegt und uns klar wird, dass wir sie selbst erschaffen. Ich wünsche uns allen, dass wir erkennen, wie sehr wir als Menschen mit allen und allem in Verbindung stehen und nur gemeinsam mit allen Wesen unseren Planeten und uns retten können. Und ich wünsche uns allen von Herzen, dass wir uns nicht an alte Vorstellungen klammern, wie an einen toten Ast, sondern den Sprung wagen in das Neue. Geben wir dem Leben eine Chance- zeigen wir Vertrauen!